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Psychotherapeut im Interview: Die emotionslose Gesellschaft

Diakon Uwe Eglau
Psychotherapeut

Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Das Thema dieses Vortrags habe ich mir nicht persönlich ausgesucht, sondern ist eine Vorgabe von Frau Prof. Anneliese Fuchs. Ich muss zugeben, dass ich mir einige Zeit sehr schwer mit diesem Thema getan habe. Aber: Die letzten Tage waren dann doch von einer Idee durchzogen, die ich Ihnen allen hier heute gerne mitgeben möchte.
Zuerst die Frage: Was sind Emotionen und wie unterscheiden die sich von Gefühlen – unterscheiden die sich eigentlich? Und: Wie wirken sie aufeinander und wie kann ich sie unterscheiden?
Emotion ist lateinisch und heißt „ex“ und „movere“ – Bewegung nach außen.

Gefühle sind der Ausdruck unserer wahrgenommenen Emotionen.

Man nehme das Eisbergbeispiel von Sigmund Freud - dann befinden sich die Emotionen unter Wasser, im Unbewussten und die Gefühle oberhalb des Wassers, dort wo sich das Bewusstsein befindet. Früher wurde von der klassischen Aufteilung gesprochen, wo das Unbewusste 80% und das Bewusstsein 20% des Eisberges bilden. Mittlerweile ist die Prozenteinteilung anders berechnet – nämlich 95% Unbewusstsein und 5% Bewusstsein. Das ist schon ein großer Unterschied und dabei können wir erkennen, dass unser Unbewusstes eine viel größere Rolle spielt als wir immer angenommen haben.


Aber was ist jetzt der Unterschied zwischen Emotionen und Gefühlen?
Bei Emotionen handelt es sich um eine Art Basis für unser Leben– wie Freude, Ärger, Angst, Überraschung, Trauer und Ekel, Komik, Ironie sowie Mitleid und auch Eifersucht, um nur einige wenige zu nennen, also man könnte auch sagen unsere Urinstinkte. Diese Emotionen lassen sich nicht unterdrücken, sie kommen einfach zum Vorschein; ob wir wollen oder auch nicht wollen. Hier sind mentale und körperliche Prozesse gekoppelt und veranlassen uns so zu Handlungen. Zudem erkennen wir sehr gut, ob Menschen wirklich eine Emotion fühlen oder sie nur vorspielen, weil die Emotionen über die Mimik unweigerlich zum Vorschein kommen. Und hier der Unterschied: Im Gegensatz zu unseren Gefühlen sind unsere Emotionen nicht so gut zu steuern.
Ein Gefühl bedeutet das Bewusstwerden einer vorangegangenen Emotion. Neurowissenschaftler unterscheiden oft zwischen Emotionen, also der körperlichen Reaktion auf einen äußeren Reiz hin, und Gefühlen, bei denen das Gehirn die Reaktionen des Körpers verarbeitet. Nur Emotionen, die in die Hirnrinde gelangen, werden als bewusste Gefühle wahrgenommen. Da wir die Gefühle im Bewusstsein wahrnehmen, werden wir uns auf diese fokussieren. Gefühle gehören zu den spontanen Lebensregungen wie Atmen, Gehen, Weinen usw. Wir können sie insoweit beeinflussen, wie wir auch unser Atmen und Gehen beeinflussen können. Doch in der Regel atmen und gehen wir so unwillkürlich, wie wir fühlen. Aber: Durch Achtsamkeit können wir erspüren und mitbestimmen in welcher Größe sie in unserem Leben einen Platz einnehmen. Sie sind immer da, manchmal kleiner und unscheinbarer und manchmal in verstärkter Form. Darauf möchte ich mich später noch mehr konzentrieren.
Welche Aufgabe haben Gefühle?
Gefühle schaffen in uns Erinnerungen und diese Erfahrungen speichern wir ab. Sie helfen uns diese Erfahrungen zu bewerten und dadurch regulieren sie unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Gefühle stoßen uns dazu an, Entscheidungen zu treffen.
Wie kann ich lernen meine Emotionen zu steuern?
Ja, das funktioniert! Durch Achtsamkeitsarbeit. Lerne deine Gefühle zu verstehen und finde heraus wo sie ihren Ursprung haben, dann kannst man über die Gefühle und das Verstehen der Gefühle die Emotionen verändern. Oft reicht schon ein kurzer Blick, um es zu verstehen und es zu verändern. Ich persönlich bin kein großer Fan vom positiven Denken. Nur positives Denken allein funktioniert nicht, denn es muss im Herzen ankommen.
Und jetzt die Frage an sie alle:
Was hat das alles mit unserer Gesellschaft zu tun? Die achtsam durch ihr eigenes Leben gehen, formen diese Gesellschaft, die besser funktioniert, wenn sie sich von ihren positiven und lebensbejahenden Emotionen leiten lassen und nicht von dem ständigen Gefühl „Angst“.
Dazu noch eine kurze Seitenbemerkung: Leben wir wirklich in einer „emotionslosen Gesellschaft“? Ich denke teilweise ja, aber in Besonderem leben wir heute in einer empathielosen Gesellschaft. Empathie bezeichnet die Fähigkeit und Bereitschaft, die Emotionen einer anderen Person zu erkennen, zu verstehen und nachzuempfinden. Dazu bedarf es eben Einfühlungsvermögens.
Wie kann aber jetzt ein Weg zu einer emotionsvollen Gesellschaft, zu einer positiven emotionsvollen Gesellschaft gelingen. Wir haben es vorher schon kurz angesprochen: durch Achtsamkeit, auf meine Beziehung hin zu Gott, zum Nächsten und zu mir selbst.

Dazu bedarf es meiner Meinung nach eines Dreiklangs in meinem Leben. Das erspüren des „Ur – Vertrauens“ darauf hin dass ich Urgewollt, von Gott gewollt
Das wichtigste Gebot: ›Hört, ihr Israeliten! Der Herr ist unser Gott, der Herr allein. 30 Ihr sollt ihn von ganzem Herzen lieben, mit ganzer Hingabe, mit eurem ganzen Verstand und mit all eurer Kraft.‹[a] 31
Ebenso wichtig ist das andere Gebot: ›Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.‹[b] Kein anderes Gebot ist wichtiger als diese beiden.«

Wie kann dieser Weg nun gelingen? Mehrere Ideen kamen mir dazu:
1. Viktor Frankl nennt diese Veränderung in meinem Leben die „kopernikanische Wende“
2. Jesus nennt diesen Weg: Markus 12:28-4428 Ein Schriftgelehrter hatte diesem Wortwechsel zugehört und war von der Antwort beeindruckt, die Jesus den Sadduzäern gegeben hatte. Er ging zu ihm hin und fragte ihn: »Welches ist von allen Geboten Gottes das wichtigste?« 29 Jesus antwortete: »Wer zugehört hat, der wird neben der Gottesliebe, der Nächstenliebe den Ausgangspunkt und den Schlusspunkt aller Achtsamkeit und Veränderung gehört haben: ---wie dich selbst!!

Gottesliebe
Dostojewski hat es wohl auf den Punkt gebracht, diese Gottesliebe: Gott ist für mich schon deswegen unentbehrlich, weil er das einzige Wesen ist, das man ewig lieben kann. (Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881), russischer Dichter)
Die von Gott ausgehende Liebe wird als eine unendliche, absolut bedingungslose Liebe verstanden. Sie ist eine völlig einseitige Liebe, hat keine Bedingungen, die an mich gestellt werden.

Nächstenliebe  
Augustinus bringt es für mich auf den Punkt: „Unruhestifter zurechtweisen, Kleinmütige trösten, sich der Schwachen annehmen, Gegner widerlegen, sich vor Nachstellern hüten, Ungebildete lehren, Träge wachrütteln, Händelsucher zurückhalten, Eingebildeten den rechten Platz anweisen, Streitende besänftigen, Armen helfen, Unterdrückte befreien, Gute ermutigen, Böse ertragen und - ach - alle lieben.“ (Aurelius Augustinus (354-430), Bischof von Hippo in Nordafrika, Philosoph, Kirchenvater, Heiliger)
Es bedeutet ja nicht, jedem Menschen um den Hals zu fallen und mit allem einverstanden zu sein, was andere von sich geben und tun. Es bedarf aber des verankert seins im eigenen Leben und des toleranten auf andere Zugehens im Wissen um meine eigenen Standpunkte. Dann kann Nächstenliebe manchmal gelingen.

Selbstliebe
Bernhard von Clairvaux bringt es für mich auf den Punkt: „Wenn also alle Menschen ein Recht auf dich haben, dann sei auch du selbst ein Mensch, der ein Recht auf sich selbst hat. Warum solltest einzig du selbst nichts von dir haben? Wie lange noch schenkst du allen anderen deine Aufmerksamkeit, nur nicht dir selber? Bist du dir etwa selbst ein Fremder? Bist du nicht jedem fremd, wenn du dir selber fremd bist? Ja, wer mit sich selbst schlecht umgeht, wie kann der gut sein? Denke also daran: Gönne dich dir selbst.“ (Bernhard von Clairvaux (1091-1153), französischer Zisterzienser-Abt und Theologe)
Und Meister Eckhart: „Hast du dich selbst lieb, so hast du alle Menschen lieb wie dich selbst. Solange du einen einzigen Menschen weniger lieb hast als dich selbst, so hast du dich selbst nie wahrhaft liebgewonnen“. (Meister Eckhart (1260-1328), deutscher Dominikaner, Mystiker )

Der Weg zur Selbstliebe, zur Nächstenliebe und zur Gottesliebe führt nur über mich und über meine ständige Bereitschaft zur Veränderung.


Lothar Zenetti hat es in einem Text aus dem Jahr 1972 für die Kirche(n) auf den Punkt gebracht:

Frag hundert Katholiken, was das Wichtigste ist in der Kirche.
Sie werden antworten: Die Messe.
Frag hundert Katholiken, was das Wichtigste ist in der Messe.
Sie werden antworten: Die Wandlung.
Sag hundert Katholiken, dass das Wichtigste in der Kirche die Wandlung ist: Sie werden empört sein und sagen:
„Nein, alles soll bleiben wie es ist“!

Ein wenig für uns umformuliert:

Sag hundert Menschen, das Wichtigste in dieser Welt ist es zu leben. Sie werden ja dazu sagen.
Sag hundert Menschen, das Wichtigste in ihrem Leben ist ständige Wandlung.
Sie werden empört sein und sagen:
„Nein, ich mag so bleiben wie ich bin“!

Die Bereitschaft zur Wandlung ist in unserem Leben eine der wichtigsten Aufgabe. Dabei muss ich bereit sein, mich mir selbst zu stellen, mich zu hinterfragen und auch hinterfragen zu lassen und immer mehr auf Wandlung – jeden Tag neu – aus zu sein. Niemand behauptet, dies wäre einfach, aber es führt mich dahin, den Nächsten, Gott und mich selbst zu lieben.
Viktor Frankl schreibt in einem Buch, „Theorie und Therapie der Neurosen“, warum er den Menschen so spannend findet und Psychotherapeut geworden ist. Vielleicht kann das für uns eine Hilfe sein: „Der leidende Mensch steht höher als der tüchtige Mensch. Und wäre dem nicht so, dann stünde es nicht dafür, Psychiater (Psychotherapeut, Psychologe, Lebensberater, Heiler, ...) zu sein; denn nicht für einen verdorbenen „psychischen Mechanismus“, nicht für eine ruinierten seelischen „Apparat“ und nicht für eine zerbrochenen Maschine möchte ich Seelenarzt (Psychotherapeut, Psychologe, Lebensberater, Heiler, ...) sein; sondern nur für das Menschliche im Menschen, das hinter alledem und über alledem steht.“

Wenn mir das gelingen kann, solch eine Haltung mir selbst gegenüber, dem Menschen und Gott gegenüber zu bekommen, dann wird unsere Gesellschaft wieder mit positiven Emotionen gewandelt werden; weil ich im ständigen Wandel bin – und damit auch meine Emotionen. Die Grundvoraussetzung dafür ist es aber, zu authentischen Menschen heranzureifen; zu Menschen, die jeden Tag neu werden wollen.